Montag, 15. August 2005

Unsichtbar

"Am Ende des 21. Jahrhunderts steht wieder das "unsichtbare Theater" auf dem Spielplan. Die Hausherren der Inszenierungen sind diesmal nicht die engagierten Akteure einer vertuschten Choreografie, wie sie sich in den 70 Jahren (sic!) mit Namen wie dem des Theaterregisseurs und Autors Augusto Boal verbindet. Die verdeckt operierenden Agenten gehören jetzt zum Ensemble der Regierung. Der Stoff, den sie spielen, stützt sich auf die alten Stichworte. Doch die Souffleuse ist gekauft. Sie arbeitet für den Abschirmdienst. Der Autor sitzt beim Innenministerium. Die Kulissen schiebt ein eigens dafür abgestelltes Polizeikommando. Sie spielen in gutbürgerlicher Theatertradition die Stücke der griechischen Antike in moderner Bearbeitung.

Vorn ist der Bühnenraum haushoch vernagelt, die Bretter glatt verputzt, kein Anzeichen irgendeiner Handlung, alles ist in bester Ordnung. Freunde der Theorie von Meyerhold haben eine fünfte Wand gezimmert. Jedermann, der auf sie blickt, steht vertikal halbiert und daher mit dem Rücken in der Realität. Die Achse der Erinnerung.
Als sähen wir in einen Spiegel oberhalb der Szene, erkennen wir im Hintergrund undeutlich Bewegung von Gerät, Getümmel, das sich lichtet. Schwer zu sagen, ob es sich bei den Schemen um Projektionen, um eine Täuschung der Augen und Ohren, oder um Beobachtungen handelt, die der Überprüfung standhalten und nach konventionellen Kriterien der Bewertung das Etikett "echt" verdienen. Dann wieder Zweifel: sind das doch nur Produkte der eigenen Phantasie, aus gelesenen und falsch verstandenen Sentenzen kompiliert? Aus diesem Sinnen-Hybrid entsteht die Geschichte. Wir auf den Rängen erwachen langsam.

Nach dem Schlachtgetümmel, an dem wir in der Tiefe des Zuschauerraumes nur durch Mauerschau teilhaben, berichtet der Späher vom oberen Rand der schneeflockenweißen Bildschirmwand herunter von der Rückkehr der Toten. Sie baden das Gewesene aus, löschen in den Fluten die Erinnerung an die Vergangenheit, an das auf der anderen Seite Gesehene: Lethe, der flüssige Wunderblock, lässt die Toten ohne Schaden gehen, zurück in ein neues Leben. Sie werden wieder verkörpert, aber sie wissen nichts mehr vom Vorher. Später werden sie sich auf der Vorbühne einfinden, sich gegenseitig nach den Spuren des Spiels absuchen. Aber es kommen nur makellose Körper von Schauspielern zum Vorschein. Kein Riss, keine Quetschung, kein Hämatom, nicht einmal eine winzige Brandspur ist zu finden. Der Geruch, der noch in der Luft hängt, den muss eine Nebelmaschine erzeugt haben. Findige Takelage hat die Reste von zerbeultem Material in den Himmel der Bühne verschwinden lassen. Jetzt ist alles leer."


Aus:
Olaf Arndt, Demonen. Zur Mythologie der Inneren Sicherheit, Edition Nautilus, Hamburg 2005

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maske


Sacred Theatre

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